@DasPie, ich schreibe meine Antwort für eventuelle fachfremde Mitleser auch etwas ausführlicher.
Deine Annahmen führen m.E. direkt zum Superdeterminismus, der wesentlich krassere Konsequenzen hat, als man das im ersten Moment denkt. Hier meine Begründung dazu …
An der Stelle muss man vorsichtig sein, da statistische Unabhängigkeit im Sinne wie ich es verwendet habe und Realismus zwei unterschiedliche Dinge sind.
Die Kopenhagener Interpretation nimmt Nicht-Realismus und Nicht-Lokalität an. Deine Sicht passt bzgl. Nicht-Realismus zur Kopenhagener Interpretation, weicht aber bei der Lokalität ab.
Wikipedia - Bellsche Ungleichung - Folgerungen
Dies ist die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik, die unter Physikern vorherrscht.
Nach dieser ist die Quantenmechanik nicht-real, im Gegensatz zu den Vorstellungen von Einstein, Podolski und Rosen (siehe Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon), weil eine Messung nicht einfach eine Eigenschaft abliest, sondern feststellt (präziser: herstellt), was zuvor nicht feststand.
Und die Quantenmechanik ist nicht-lokal, weil sich der quantenmechanische Zustand des Photonenpaares über beide Messplätze erstreckt.
Ich gehe nochmal kurz auf deine beiden Punkte ein, da gerade die Unabhängigkeit der entscheidende Punkt ist, der offenbar gerne vergessen oder falsch interpretiert wird.
Lokalität
Das entspricht Einsteins Meinung, dass es keine „spukhafte Fernwirkung“ gibt. Die Folgerungen alleine aus dieser Grundhaltung sind bzgl. Interpretation der QM allerdings schon enorm!
Nehmen wir als Beispiel das Standard-Experiment mit einem Zerfall, der zwei auseinanderfliegende Teilchen mit entgegengesetztem Spin produziert.
Im Experiment sieht man, dass bei Messung des einen und anschließend des anderen Teilchens beide Spins wirklich entgegengesetzt sind. Bei häufiger Wiederholung erhält man in 50% das eine und in 50% das andere Ergebnis.
Nach dem Fomalismus der QM befinden sich die Teilchen bis zur Messung in einem verschränkten gemeinsamen Gesamtzustand. Dieser stellt insbesondere eine gleichzeitige Überlagerung beider möglicher Ergebniszustände dar, d.h. Gesamtzustand = 1/√ 2 Zustand(+|-) + 1/√ 2 Zustand(-|+).
Erst im Moment der Messung kollabiert die Wellenfunktion, das heißt der Gesamtzustand beider Teilchen bricht auf einen festen Zustand zusammen, z.B. Gesamtzustand = Zustand(-|+).
Die alles entscheidende Frage ist nun, ob dieser verschränkte Zustand wirklich existiert, oder nur im Formalismus der (damit unzureichenden) QM auftaucht.
Nach Kopenhagener Interpretation und heute üblicher (evtl. falscher) Auswertung der Bellschen Ungleichung, befinden sich die Teilchen tatsächlich bis zur Messung in einem verschränkten Zustand.
Wenn du aber Lokalität der Realität/Natur forderst, kann es diesen überlagerten Zustand nicht geben. Ab dem Zeitpunkt der Messung des einen Teilchens steht der Zustand für beide Teilchen fest, auch wenn sie raumartig voneinander getrennt sind. Die Information kann sich in dem Fall nicht lokal kausal von einem zum anderen Teilchen ausbreiten. ¹
Der Zustand beider Teilchen muss also zu Beginn schon festgestanden haben. Das ist genau das, was man als verborgene Variablen bezeichnet. Es gibt weitere Variablen, die den Ergebniszustand von Anfang an eindeutig definieren; nur die QM kennt nicht alle davon und rechnet deshalb mit behelfsmäßigen überlagerten Zuständen und Wahrscheinlichkeiten.
Jetzt kommst du genau zu dem beschriebenen Problem mit der Bellschen Ungleichung:
Im Falle einer lokal kausalen Natur ohne überlagerte Zustände (also mit verborgenen Variablen), sowie bei gegebener Unabhängigkeit des Messvorgangs vom Teilchenzustand, muss die Bellsche Ungleichung erfüllt sein.
Das ist sie aber nicht!
Einziger Ausweg bleibt für dich also die Annahme, dass der Messvorgang nicht unabhängig vom Teilchenzustand ist. Dann ist alles wieder in Ordnung und im Einklang mit den Experimenten.
Mit dieser Unabhängigkeit ist allerdings etwas leicht anderes gemeint, als du oben schreibst, was mich zum zweiten Punkt bringt…
Unabhängigkeit von Messung und Teilchenzustand
Deine Aussagen zur Unabhängigkeit in deinem Sinne sind natürlich alle plausibel, aber denke ich sogar konform mit der Kopenhagener Interpretation. Auch wenn die Messung selbst das Ergebnis am Ort der Messung nicht nur festlegt, sondern sogar mit beeinflusst, kann es bis dahin einen realen überlagerten, verschränkten Zustand gegeben haben.
Die Art von Unabhängigkeit, die aber aus deiner Annahme der Lokalität folgt und wie sie in den Aussagen zur Bellschen Ungleichung auftaucht ist eine andere.
Wir haben oben aus der Lokalität gefolgert, dass es verborgene Variablen geben muss, die der QM unbekannt sind. Das heißt im Klartext einfach nur, dass der Zustand beider Teilchen von Beginn an feststeht.
Was heißt es nun, wenn der Messvorgang nicht statistisch unabhängig von diesem Teilchenzustand ist?
Der Zustand der beiden Teilchen legt sich in unserem Szenario ja eben nicht erst bei der Messung fest, sondern steht seit dem Zerfallsvorgang von Anfang an fest.
Falls die spätere Messung also wirklich mit diesem Zustand korreliert ist, dann müssen sowohl die Messung, als auch der Teilchenzustand beim Zerfall kausal aus einer gemeinsamen Vergangenheit hervorgehen!
Schließlich kann die spätere Messung keinen direkten Einfluss auf den Zustand beim Zerfall nehmen; das wäre nicht lokal kausal.
Das ist eben das, was man Superdeterminismus nennt.
Die Konsequenzen sind sehr unintuitiv und ich habe das im ersten Moment nicht umrissen. Hier ein Beispiel…
Beispiel zum Superdeterminismus
Beim Doppelspalt-Experiment hängt es von einer Messung am Spalt ab, ob man ein Interferenz-Muster sieht oder nicht. Misst man, durch welchen Spalt das Teilchen geht, verschwindet die Interferenz.
Nun stelle man sich vor, dass der Doppelspalt weit von der Lichtquelle entfernt ist, sagen wir einige Lichtminuten. Die Entscheidung, ob man am Spalt misst oder nicht, werde erst nach der Aussendung des Lichts von der Quelle durch die Durchführenden des Experiments entschieden.
Es gibt in unserer Theorie keine überlagerten Zustände, sondern verborgene Variablen. Da sich der Teilchenzustand also nicht erst im Moment der Messung festlegt, muss schon an der Lichtquelle feststehen, ob sich das Teilchen wie eine Welle verhält oder nicht.
Wenn nun aber die spätere Messung korreliert dazu ist, ob sich das Teilchen wie eine Welle verhält, muss beides in einer gemeinsamen Vergangenheit determiniert worden sein. D.h. aus der gemeinsamen Vergangenheit geht hervor in welchem Zustand jedes Teilchen an der Quelle ist, aber auch welche Messung später durchgeführt wird!
Diese starke Aussage über einen eventuellen „freien Willen“ ist genau der Grund, warum der Superdeterminismus bzw. eine nicht vorhandene Unabhängigkeit von Anfang verworfen werden und lieber an die Kopenhagener Interpretation geglaubt wird.
Siehe dazu die Zitate bekannter Physiker in der Videos.
Das ist genau der Punkt. Der freie Wille ist dann eine Illusion. Die Frage ist, ob das wirklich so schlimm ist.
Du hast das geschrieben, während ich das oben geschrieben habe. Aber der Superdeterminismus ist genau solch eine Theorie.
Das Problem ist, dass man ein tiefergehendes Verständnis nur gewinnt, wenn man sich mit den Formeln analytisch beschäftigt und auch mal selbst etwas herleitet.
Ich hatte aber dieselben Probleme, deshalb ein Rat an angehende Physik-Studenten:
Ich habe damals während der Studiums nur die Mathe-Pflichtvorlesungen gehört (Lineare Algebra I und II(?), Analysis I/II). Viele Herleitungen in den Theorie-Vorlesungen konnte ich deshalb nicht nachvollziehen.
Erst später habe ich dann auch Analysis III (Maß- und Integrationstheorie) und Algebra (Gruppen, Ringe, Körper) gehört. Ich war im Nachhinein wirklich traurig, dass mir dadurch erst Jahre nach dem Studium relativ viele Lichter aufgegangen sind.
Deshalb empfehle ich jedem Physik-Studenten, der sich insbesondere für die Theorie interessiert, mindestens LinAlg I/II, Ana I/II/III, Algebra und Funktionentheorie zu hören. Falls irgendwie möglich auch Darstellungstheorie und Funktionalanalysis.
¹) Ein Ausweg wären zusätzliche Dimensionen, über die alle Teilchen jederzeit auf kürzester Distanz verbunden wären, siehe Einstein-Rosen-Brücke. Die Information über die Messung könnte sich dann praktisch instantan und trotzdem lokal kausal von einem zum anderen Teilchen ausbreiten, obwohl diese in unseren drei Dimensionen weit entfernt wären. Ich nehme hier einfach mal unbegründet an, dass die Realität nicht so abgefahren ist. Sollte es doch so sein, stimmen meine Betrachtungen nicht.